Wilstermarsch Erst ein Orkantief, dann eine Sturmflut, kurz darauf klirrende Kälte und schließlich eine daraus resultierende Hungersnot: So stellte sich das Katastrophenszenario vor genau 300 Jahren auch für die Menschen in der Wilstermarsch dar. Das Ereignis ging als Weihnachtsflut in die Geschichte ein und nahm an Heiligabend 1717 seinen unheilvollen Lauf.
Einige der wenigen authentischen Quellen aus jener Zeit hat der Wilsteraner Hans-Peter Micheel ausgegraben. „Der Archidiakonus Gregorius Culemann an der Kirche zu Wilster hat im Jahre 1728 einen vortrefflichen, mit großem Fleiß in vier Bänden zusammengestellten Bericht über die verheerenden Wasserfluten der Jahre 1717 bis 1721 herausgegeben, der es verdient, der Vergessenheit durch einen Neudruck wieder entrissen zu werden“, findet Micheel. Ehemals sei das Buch wohl in zahlreichen Häusern der Wilstermarsch vorhanden gewesen. Von den Originalbänden sei heute aber nur noch ein komplettes Exemplar im Landesarchiv Kiel erhalten.
Micheel machte sich an die mühevolle Spurensuche, studierte die historischen Schriften und stellte Auszüge daraus zusammen, die in unserer Zeitung in den nächsten Tagen abgedruckt werden. Die erste Folge dazu gibt es unten auf dieser Seite. Das Besondere: Die Texte stellte Micheel wortgetreu zusammen. So können die Leser heute nachvollziehen, wie sich die Menschen vor fast 300 Jahren mit ihren damals noch frischen persönlichen Erinnerungen bei der Lektüre gefühlt haben müssen.
Die Bände über die verheerenden Wasserfluten waren übrigens 1926 von der Wilsteraner Buchdruckerei Johann Schwarck neu gedruckt worden. Der Druckauftrag kam vom Heimatverein Wilster unter dem damaligen Vorsitzender Pastor Jensen aus St. Margarethen erteilt worden. „Trotz eifriger Bemühungen ist es mir aber nicht gelungen, irgendwo noch ein vollständiges Exemplar aufzufinden. So habe ich es dann aus zwei in recht zerlesenem Zustande befindlichen Exemplaren wieder zusammentragen müssen.“
Von sich selbst sagt der 77-Jährige: „Ich bin in Wilster geboren und wohne seitdem immer direkt an der Wilster Au. Dieser Fluss hat mich in meinem Leben stets begleitet. Mein damaliger Klassenlehrer Otto Neumann hat mein Interesse zur Heimat gestärkt, und das ist bis heute mein Thema.“
„Die Berichterstattung aus dem 18. Jahrhundert ist natürlich eine total andere als heute, 300 Jahre später“, erläutert Micheel und bittet daher „schon im voraus um Verständnis, das Geschriebene so zu lesen, wie es mir vorliegt, denn ich möchte den Schriftinhalt nicht verfälschen“. Zum besseren Verständnis hat er einige althergebrachte Begriffe gesondert erläutert (die Erläuterungen finden Sie in dem Auszug aus der von dem Wilsteraner Gregorius Culeman verfassten Beschreibung der Weihnachtsflut von 1717 - siehe Link am Ende dieses Artikels).
Micheel zur Einleitung: „Wenn man die Berichte liest, erfährt man, wie die Bewohner der Wilstermarsch gelebt haben, wie arm sie waren und wie die Naturgewalten den Menschen zugesetzt haben. Das Wasser hatte ihnen alles genommen. Tausende sind im Wasser ertrunken.“ Es habe auch keine Möglichkeiten gegeben sich gegenseitig zu verständigen. „Es gab kein elektrisches Licht, kein Radio, Fernsehen oder Telefon und auch kein frisches Wasser aus der Leitung“, führt Micheel die damalige Zeit vor Augen. „Mit sehr viel Kraft und durch ihren starken Glauben an Gott, haben die Menschen diese schwere Zeit überlebt.“ Weihnachten vor genau 300 Jahren.
sh:z
Ein Kirchenmann als Chronist
Autor des vier Bände umfassenden „Denckmahl von den hohen Wasser Fluthen – 1717-1725“ ist Pastor Gregorius Culemann. Er ist geboren zu Herzberg im Fürstentum Grubenhagen am 4. August 1661, besuchte die Schulen in Osterrade, Cellerfeld und Oldenburg und studierte dann von 1683 bis 1687 an der Universität in Kiel. Auf Empfehlung des dortigen Professors Kortholt kam er nach Wilster, wo er im Jahre 1691 das Rektorat an der Stadtschule erhielt. Nach den im Münsterdorfer Konsistoralarchiv noch vorliegenden Berichten muss er ein eifriger und tüchtiger Lehrer gewesen sein. Im Jahre 1703 wurde er dann zum Diakonus an der Bartholomäuskirche gewählt und erhielt 1711 das Archidiakonat (kirchliche Verwaltungseinheit).
In der Wilsterschen Gemeinde erfreute er sich großer Wertschätzung. Seine zahlreichen Schriften zeugen von großem Fleiß. Nachdem er zwölf Jahre im Schulamt und dreißig Jahre im Kirchenamt zu Wilster gestanden hatte, starb er an den Folgen eines Unfalles im Januar 1733, am gleichen Tage mit seiner ebenfalls hochbetagten Frau.
Sie hinterließen zwei Söhne, von denen der eine Bürgermeister in Itzehoe, der andere Kaufmann in Hamburg war. Mit seinen genauen Aufzeichnungen und wunderbaren Erlebnissen hat er sich selber in der Marsch ein unvergängliches Denkmal errichtet.
Eine umfassende Beschreibung der Weihnachtsflut 1717 öffnet sich nach Anklicken des folgenden Links:
Als die große Flut kam (sh:z 23.12.2017)
Vor 300 Jahren brach am frühen Weihnachtsmorgen die verheerendste Sturmflut der Neuzeit über Norddeutschland herein – mehr als 11 000 Menschen starben
Still ist diese heilige Nacht nicht. Ein stürmischer Südwestwind heult seit Tagen um die Häuser. Aber es ist doch merklich stiller geworden, als die Menschen am Abend des 24. Dezember 1717 aus der Kirche treten. Der Wind hat sich endlich etwas gelegt, die Deiche vibrieren nicht mehr unter den brechenden Wellen. Die Flut an diesem Tage ist vorüber, und das nächste Hochwasser wird erst am Weihnachtsmorgen erwartet. Die Menschen an den norddeutschen Küsten legen sich beruhigt schlafen, in Vorfreude auf das große Fest, oder, wie es der Zeitzeuge Conrad Ummen aus Jever später beschreibt: „In Hoffnung bey anbrechendem Tage ein Christ-Geschenck zu geniessen“.
Doch den Weihnachtsmorgen erleben viele Menschen an den Küsten nicht mehr. Während sie schlafen, dreht der Wind auf Nordwest und frischt wieder auf. Zum Orkan angewachsen peitscht er die Wassermassen, die der Südwestwind zuvor vom Atlantik in die Nordsee gedrückt hatte, mit aller Macht gegen die Küsten. Die Deiche brechen an unzähligen Stellen und werden teilweise auf mehreren Kilometern Länge einfach weggespült. Vor allem die niedersächsische Küste und das südwestliche Schleswig-Holstein trifft es hart. Innerhalb kürzester Zeit steigt das Wasser so schnell, dass viele Bewohner – aus dem Schlaf hochgeschreckt – nur noch einen Fluchtweg finden: den Weg nach oben. „Als die Menschen merkten, dass das Wasser an ihre Tür spülte und schon in die Räume hineintrat, sind sie auf den Dachboden gegangen“, erzählt der Göttinger Historiker Manfred Jakubowski-Tiessen. „Aber die Wellen sind teilweise so hoch gewesen, dass sie auch den Dachboden noch erreicht haben.“ Viele Küstenbewohner, die voller Vorfreude auf das Weihnachtsfest schlafen gegangen waren, sitzen jetzt in einer tödlichen Falle.
Immer wieder werden solche Szenen in Zeitdokumenten beschrieben: die Mutter, die es nicht mehr schafft, ihre Kinder durch eine Ritze im Dachboden nach oben zu ziehen, und sie im unteren Raum ertrinken sieht, oder die riesige Welle, die den Dachboden zwischen Eltern und Kindern teilt. Der Pastor Johann Christian Hekelius aus Ostfriesland beobachtet, wie sich die Nachbarsfamilie auf einen großen Strohhaufen retten kann, der schließlich wie ein Floß in den Fluten treibt. Doch nach und nach, so beschreibt er es, fällt immer mehr Stroh ins Wasser. Die Eltern müssen mit ansehen, wie das erste Kind ins Wasser fällt und ertrinkt. Das zweite. Das dritte. Das kleinste Kind hält die Frau in ihren Armen. Zumindest diese beiden meint der Mann noch retten zu können. Doch auch sie werden von einer Welle erfasst und verschwinden in den Fluten. Menschen klammern sich an das nackte Leben
Anstatt ein Christgeschenk zu genießen, klammern sich die meisten Menschen an ihr nacktes Leben. Weite Teile der Küstengebiete haben sich schon vor Sonnenaufgang in ein tosendes Meer verwandelt. „Man sah hier und da gantze und halbe Häuser antreiben“, beschreibt Johann Christian Hekelius, und zählt weiter auf: Balcken, Bretter, Sparren, Stühle, Bäncke, Betten und Kleider, auch Kühe, Pferde, Schafe, Hühner oder Gänse treiben tot in den Fluten. „Sahe man an einen anderen Ort so kamen zugleich mit solchen Hausgeräthe arme Menschen angeschwommen, die etwan auf einem Stucke ihres umgerissenen Hauses, oder auf ein wenig Stroh sassen.“ Conrad Ummen schreibt gar von einem ganzen „Heer“ an Leichen, das in den Fluten schwamm.
Es gibt in der Neuzeit keine Flut, die in Deutschland so enorme Schäden verursacht hat und so viele Todesopfer gefordert hat, wie diese, sagt Manfred Jakubowski-Tiessen. Und trotzdem ist sie vielerorts in Vergessenheit geraten. Direkte Spuren der 300 Jahre alten Verwüstung sind heute kaum mehr zu finden. Auch die Küstenlinie hat sie im Gegensatz zu den bekannten „Mandränken“ nur wenig verändert. Allein der Hafen von Wyk auf Föhr gilt als Produkt der Weihnachtsflut und auch viele Wehlen – kleine Seen, die in der Folge der Deichbrüche entstanden sind – gibt es entlang der Küste. Überreste untergegangener Siedlungen aber fand man nicht – bis vor kurzem, als Bagger in einem kleinen Ort im niedersächsischen Butjadingen anrückten, um das Deichvorland zu renaturieren. Sie trugen nach und nach Land ab, um den Bereich zwischen altem Sommer- und Hauptdeich in Langwarden wieder verschlicken zu lassen, und wurden dabei genau beobachtet. Denn der Langwardener Fritz Schröder, dessen Familie seit Generationen hinter dem Deich lebt, ahnte schon lange, dass genau dort mal „etwas gewesen sein musste“. Weil die Arbeiter keine Anstalten machten, mögliche archäologische Funde zu retten, ging er selbst nachschauen. Er nahm mit, was ihm wert erschien, gerettet zu werden. Holzfunde gab er zur Konservierung in das Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven. Alles andere sammelte er zu Hause in einer kleinen Kammer.
Wer diese Kammer betritt, weiß nicht, wohin er zuerst schauen soll: bemalte Tonkrüge, feinste Glasgefäße, die von dünnen blauen Bändern umfasst werden, Schüsseln, Teller – dazu unzählige Scherben, die der gelernte Elektriker hier gesammelt, verglichen und kunstvoll wieder zusammengefügt hat. An den Wänden stehen hohe Regale mit schmalen Schubladen in denen weitere Bruchstücke aus dem Watt lagern. Spuren einer zerbrochenen Welt. Ein Puzzle mit tausenden Teilen.
Ein Rinderzahn, ein halber Kuhkiefer, ein paar Pfähle – als Fritz Schröder dem Archäologen Stefan Krabath seine Fundstelle im Watt zeigt, wird schnell klar, dass dort mal eine Art Stall und ein Misthaufen mitsamt Schlachtabfällen gewesen sein müssen. Überall ragen abgeschabte Knochen von Tieren aus dem Schlick. Auch ein Brunnen, der aus Torfsoden gelegt wurde, ist noch klar zu erkennen. Dieser Teil des Watts, in dem gerade ein paar Austernfischer nach Würmern suchen, erzählt eine eigene Geschichte. Eine Geschichte, deren Handlung in Kleinigkeiten, in Scherben und Knochen verborgen ist. Und eine Geschichte, die 1717 jäh endete. Denn es gibt zwar unterschiedliche Fundstellen, die verschiedenen Siedlungszeiten zuzuordnen sind. Aber der letzte datierbare Fund von Fritz Schröder stammt aus dem Jahr 1709. Das war kurz vor der Flut. Danach folgte nichts mehr. Heute ist es schwer vorstellbar, dass hier einmal Häuser waren. Dass hier die feinen Trinkgläser in den Schränken standen, dass ein Kind mit der Holzkugel spielte oder auf der Knochenflöte pfiff.
Kinder hatten damals die geringsten Chancen zu überleben. Selbst wer die Gewalt der Flut überstand, war nicht unbedingt gerettet. Die Menschen waren in ihren Nachthemden auf Dächern, Bäumen oder kleinen Erhebungen gestrandet und mussten dort auf Hilfe warten. Gekleidet in dünne, nasse Kleidung waren sie Kälte und Wind ausgeliefert. Weil gleichzeitig viele Boote von der Flut mitgerissen worden waren, gab es kaum Möglichkeiten zu ihnen zu gelangen und sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Nicht wenige Menschen erfroren oder verhungerten in den ersten Tagen nach der Flut. Ein Vater, so wird berichtet, hatte sich mit einer Hand an einen Holzbalken geklammert – in der anderen Hand hielt er krampfhaft einen Eimer fest. Als er gegen Mittag des 1. Weihnachtstages endlich wieder festes Land erreichte, war er gerettet. Doch den Eimer hatte er vergeblich festgehalten. Sein jüngstes Kind, das er in seiner Not dort hineingesetzte hatte, war erfroren.
Es sind Geschichten wie diese, die das ganze Leid beschreiben, das die Naturgewalten über die Menschen der Küste brachten. Die Nachricht davon aber erreichte die Machtzentren erst einige Tage später. Erst dann, als es für viele Menschen schon zu spät war, konnten geordnete Hilfspläne gemacht werden – die Behörden schickten Abgesandte in die betroffenen Länder, um das Unglück uns seine Folgen genau zu dokumentieren: Wie viele Tote gab es? Wie hoch sind die Schäden? Wie viele Tiere sind umgekommen? Dadurch gebe es ziemlich exakte Aufzeichnungen, aus denen man die Ausmaße der Flut ablesen kann, meint der Historiker Manfred Jakubowski-Tiessen. An der gesamten Nordseeküste dürften mehr als 11 000 Menschen, 10 000 Pferde, 40 000 Rinder, 10 000 Schweine und 35 000 Schafe ertrunken und mehr als 4000 Häuser von der wütenden See weggerissen worden sein. In Schleswig-Holstein kann man dem Historiker Dirk Meier zufolge, „von mindestens 558 Toten, 10 996 ertrunkenen Rindern und 1692 ertrunkenen Schafen ausgehen. Mindestens 390 Häuser waren weggerissen und weitere 1185 beschädigt worden“. Nach der Katastrophe beginnt eine neue Zeitrechnung
Die Flut nimmt aber nicht nur Tausenden Menschen das Leben. Hunger, Kälte, vor allem der Verlust der Lebensgrundlage prägte große Landstriche für Jahrzehnte. Im Februar 1718, keine zwei Monate nach der Katastrophe, folgte außerdem die nächste Sturmflut, die so genannte „Eisflut“. Weil sie riesige Eisschollen mitführte, zerstörte sie vielerorts die gerade wieder im Bau befindlichen Deiche. Die Felder des Kirchspiels Eddelak in Dithmarschen etwa konnte man auch im Frühjahr nur mit Booten befahren. Auch in anderen Gegenden lief das Wasser täglich mit der Flut ein und aus – teilweise über Jahre. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts hatten sich die betroffenen Regionen vollständig von der Katastrophe erholt, sagt Jakubowski-Tiessen. Kredite, die man für den Deichbau aufnahm, wurden sogar noch bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein abbezahlt.
Die Erinnerung an die Katastrophe wurde in den betroffenen Regionen über hundert Jahre lang wach gehalten, indem am Heiligen Abend eine so genannte „Wasserpredigt“ abgehalten wurde. In einem Kirchenbuch im Oldenburgischen wurde sogar eine neue Zeitrechnung eingeführt, die das Jahr 1718 als das 1. Jahr nach der Sündflut bezeichnete – eine Praxis, die man bis ins 19. Jahrhundert fortsetzte. Nach dieser Rechnung ist das diesjährige Weihnachtsfest also das 300. nach der sogenannten „Sündflut“.
Und daran dürfe man ruhig einmal wieder denken, meint Jürgen Jensen von der Universität Siegen. Zwar seien die Küsten heute wesentlich besser geschützt als noch vor 300 Jahren – Extremereignisse aber könnten immer auftreten: „Als Küstenwasserbauer muss ich warnen, dass das, was damals passiert ist, sich jederzeit wiederholen kann, dass etwa auch Hamburg und Bremen heute einer solchen Gefahr ausgesetzt sind.“ Jensen will vor allem das Risikobewusstsein der Küstenbewohner wieder stärken: „Wer ist heute noch auf eine Evakuierung eingestellt? Wer weiß, wo die sieben Sachen sind, die man unbedingt mitnehmen möchte?“, fragt er und greift damit die eindringliche und emotionale Warnung des Geistlichen Conrad Ummen auf, der damals Zeuge der Flutkatastrophe war und seine Aufzeichnungen über die Weihnachtsflut des Jahres 1717 mit den Worten schloss:
Ach möchte diese Schrift auf späte Zeiten währen!
Ach möchte dieses Blatt doch gleich dem Marmor seyn!
So würde Kindes Kind hieraus mit Thränen lesen/
Wie groß dein Angst-Geschrey/mein Vaterland/gewesen.