Spurensuche nach einem Jahrhundert-Mord
Es gibt Ereignisse, die brennen sich über Generationen hinweg in das kollektive Gedächtnis der Menschen. Die Sturmflut von 1962 gehört dazu, die Schneekatastrophe auch. Und ein Jahrhundertverbrechen. Vor gut 150 Jahren brachte in der Wilstermarsch der Bauernsohn Timm Thode seine Eltern, vier Brüder, eine Schwester und ein Dienstmädchen um. Um seine Spuren zu verwischen, legte er anschließend den elterlichen Hof in Schutt und Asche.
Heute würde solch ein achtfacher Mord einen Medienrummel sondergleichen auslösen. Die Berichterstattung in den Itzehoer Nachrichten war da vergleichsweise zurückhaltend. Den damaligen Gepflogenheiten entsprechend findet sich über die Gräueltat und die sich über Monate hineinziehenden Ermittlungen nur hin und wieder ein Einspalter, der die Leser über den Stand der Dinge aufklärte. Ausführlich berichtete die Tageszeitung dann zum Abschluss, nachdem – so wörtlich – „wir von competenter Seite in den Stand gesetzt wurden, Näheres darüber mitzuteilen“. Was optisch wie eine amtliche Mitteilung daherkam, ließ inhaltlich an Deutlichkeit nichts vermissen. Von einer „Gräueltat“ ist hier die Rede und von „verstümmelten Leichen“. Das Bild, das sich den Ermittlern bot, muss so schrecklich gewesen sein, dass man anfangs gar nicht an einen Einzeltäter glauben konnte. Entsprechend suchte man erst einmal nach einer marodierenden Räuberbande.
Der Leser von heute sollte sich dabei noch einmal in das Jahr 1866 versetzen. Die noch immer eher dünn besiedelte Wilstermarsch wurde damals hauptsächlich durch vereinzelte – zum Teil allerdings sehr stattliche – Bauernhöfe geprägt. Nach Einbruch der Dunkelheit war es hier wirklich dunkel. Edison hatte die Glühbirne noch gar nicht erfunden, erst Jahrzehnte später legte die Schleswag dort Stromleitungen.
Timm Thode treibt als Spukgestalt noch lange sein Unwesen
Der Münsterdorfer Journalist Werner Brorsen ist für seinen akribisch recherchierten Tatsachenroman „Der Marschenmörder“ auf monatelange Spurensuche gegangen, hat Akten gesichtet, das Umfeld beleuchtet. Am Ende seines Buches schreibt er, dass die Menschen in der Wilstermarsch noch vor 50 Jahren an düsteren Winterabenden einen spukenden Timm Thode sahen, der bei Blitz und Donner am Tatort erschien.
Eine Spukgestalt hatten die Helfer im August vergangenen Jahres sicher nicht vor Augen. Bei vielen von ihnen wurden aber Erinnerungen geweckt. Fast auf den Tag genau nach 150 Jahren gab es im August des Jahres 2016 auf einem Bauernhof im Beidenflether Ortsteil Groß Kampen ein Großfeuer. Vermutlich wegen eines technischen Defekts brannte hier der Wirtschaftsteil bis auf die Grundmauern nieder. Der Schaden wurde auf rund eine halbe Million Euro geschätzt. Genau hier stand im 19. Jahrhundert jener Bauernhof, den Timm Thode in Schutt und Asche gelegt hatte. Die Hofstelle hatte anschließend den Besitzer gewechselt. Laut Höfebuch der Wilstermarsch hatte eine „Erbengemeinschaft Thode“ das Grundstück an die Vorfahren der heutigen Besitzer verkauft.
„Wissen Sie eigentlich, dass es auch die Kerkertür noch gibt, hinter der der Marschenmörder damals saß ?“ verblüfft ein Polizeibeamter aus Wilster seinen Gesprächspartner und klärt auch gleich auf. „Die Tür ist in der Itzehoer Feuerwache verbaut worden.“ Dass es tatsächlich noch ein authentisches Relikt aus jenen dunklen Tagen gibt, ist Werner Oehlers zu verdanken. Der langjährige stellvertretende Wehrführer von Itzehoe und leidenschaftliche Stadtführer hatte sich 1982 bei einem Rathaus-Umbau für den Erhalt der Zellentür eingesetzt. Seitdem gibt es die massive Holztür mit ihren schweren eisernen Beschlägen in der Itzehoer Feuerwache. Gleich daneben erinnert eine kleine gerahmte Urkunde an Werner Oehlers – und an den letzten Insassen im Kerker, den Familienmörder Timm Thode.
Bis der damals 24-Jährige hinter Schloss und Riegel kam, waren allerdings einige Monate vergangen. Thode hatte sich nach dem Verbrechen zu einem Nachbarn gerettet – als vermeintlich einziger Überlebender. Es sei, so berichtete er, auf ihn geschossen worden. Viel mehr konnte er als Zeuge wohl allerdings nicht aufbieten. Wie die Itzehoer Nachrichten später in unnachahmlichen Formulierungen berichten, habe das damals zuständige holsteinische Obergericht in Glückstadt „sich bei den bisherigen Ermittlungen nicht beruhigen können“. Mit anderen Worten: Die Justiz ließ nicht locker, und die Ermittler nahmen sich noch einmal den Bauernsohn vor, der dann in Untersuchungshaft weich gekocht wurde. Immer wieder öffnete sich die Itzehoer Kerkertür, musste der Delinquent zum Verhör antreten. Am Ende gab es ein Geständnis – und das Motiv. Thimm Thode hatte seine gesamte Familie aus reiner Habgier umgebracht. Er wollte den Hof für sich alleine haben.
Königlicher Schwurgerichtshof fällt das Todesurteil
Damals wie heute hielten sich die Behörden mit detaillierten Auskünften noch während der laufenden Ermittlungen eher zurück. „Der Inculpat hat wohl sehr genaue Angaben über die Ausführung der Tat gemacht, die sich aber noch nicht mitteilen lassen, weil sie noch offenbar mit Lügen durchwebt sind“ – so wiederum die Itzehoer Nachrichten. Übrigens: Für die Menschen in der Wilstermarsch dürfte das – abgesehen natürlich vom Hörensagen – seinerzeit eine der ganz wenigen Informationsquellen gewesen sein. Die Wilstersche Zeitung kam erst 23 Jahre später auf den Markt.
Zurück zu Timm Thode. Natürlich wurde ihm der Prozess gemacht. Beginn war am 31. Januar 1868. Zwölf Geschworene waren bestellt, 17 Zeugen geladen. Wegen des großen öffentlichen Interesses zog das königliche Kreisgericht in den Ständesaal des Rathauses um. Der Königliche Schwurgerichtshof zu Itzehoe verurteilte Thode zum Tode. Auch dies hat Werner Brorsen ausführlich beschrieben.
Mörder wird in Glückstadt hingerichtet
Am Ende gab es dann wohl nur noch die Schwierigkeit, einen geeigneten Platz für die Hinrichtung zu finden. Die Itzehoer Ratsversammlung lehnte bei der Suche nach einem geeigneten Schauplatz dankend ab. Auch in Rendsburg wollte man nicht mit der Hinrichtung eines Massenmörders in die Geschichte eingehen. Schließlich wurde der Innenhof des Zuchthauses am Glückstädter Rethövel ausgekundschaftet. Spannend ist auch die Suche nach einem geeigneten Scharfrichter gewesen. Todesstrafen waren in preußischer Zeit schon aus der Mode gekommen, die Guillotine auch. In der Altmark fand man laut Werner Brorsen schließlich den richtigen Mann, der für sich 180 Taler Honorar und je 50 Taler für seine drei Helfer forderte. Dazu Reisekosten und Unterbringung in einem angemessenen Hotel. Zuletzt kam dann noch von König Wilhelm grünes Licht. Man möge der Gerechtigkeit freien Lauf lassen, beschied seine Majestät per Kurier.
Was vom Marschenmörder bleibt, sind ein paar dürre Zeitungsberichte, ein spannender Kriminalroman, ein Tatort, wo es nun zum zweiten Mal brannte – und die unverwüstliche Kerkertür. Und natürlich die überlieferten Erinnerungen, die sich noch immer tief in das Gedächtnis der Menschen eingegraben haben.
Volker Mehmel
Mein-Wilster (Peter von Holdt) Link auf Timm Thode