Volker MehmelWilster Von den Schokoladenseiten der Wilstermarsch kann sich jetzt die ganze Welt ein Bild machen. Der neue Imagefilm ist online, in den nächsten Tagen soll zudem eine Kampagne in den sozialen Medien starten. Erklärtes Ziel: Die Marsch will mit einer gelungenen Präsentation mehr Besucher und auch mehr potenzielle Einwohner anlocken.
Bei der Uraufführung gab es anerkennenden Beifall für die Arbeit des Itzehoer Produktionsteams UNEM. Geladen waren all diejenigen, die in dem fünfminütigen Streifen zu Wort kommen. Wer will, kann sich aber auch erst einmal mit einer Kurzfassung begnügen, die in zwei Minuten deutlich macht, was die Wilstermarsch alles hat und ist: Wasser, Freiräume, Breitband, Bauland, Landwirtschaft, die tiefste Landstelle, Wind, Arbeit und Spaß.
Spurensuche nach einem Jahrhundert-Mord Es gibt Ereignisse, die brennen sich über Generationen hinweg in das kollektive Gedächtnis der Menschen. Die Sturmflut von 1962 gehört dazu, die Schneekatastrophe auch. Und ein Jahrhundertverbrechen. Vor gut 150 Jahren brachte in der Wilstermarsch der Bauernsohn Timm Thode seine Eltern, vier Brüder, eine Schwester und ein Dienstmädchen um. Um seine Spuren zu verwischen, legte er anschließend den elterlichen Hof in Schutt und Asche. Heute würde solch ein achtfacher Mord einen Medienrummel sondergleichen auslösen. Die Berichterstattung in den Itzehoer Nachrichten war da vergleichsweise zurückhaltend. Den damaligen Gepflogenheiten entsprechend findet sich über die Gräueltat und die sich über Monate hineinziehenden Ermittlungen nur hin und wieder ein Einspalter, der die Leser über den Stand der Dinge aufklärte. Ausführlich berichtete die Tageszeitung dann zum Abschluss, nachdem – so wörtlich – „wir von competenter Seite in den Stand gesetzt wurden, Näheres darüber mitzuteilen“. Was optisch wie eine amtliche Mitteilung daherkam, ließ inhaltlich an Deutlichkeit nichts vermissen. Von einer „Gräueltat“ ist hier die Rede und von „verstümmelten Leichen“. Das Bild, das sich den Ermittlern bot, muss so schrecklich gewesen sein, dass man anfangs gar nicht an einen Einzeltäter glauben konnte. Entsprechend suchte man erst einmal nach einer marodierenden Räuberbande.
Der Leser von heute sollte sich dabei noch einmal in das Jahr 1866 versetzen. Die noch immer eher dünn besiedelte Wilstermarsch wurde damals hauptsächlich durch vereinzelte – zum Teil allerdings sehr stattliche – Bauernhöfe geprägt. Nach Einbruch der Dunkelheit war es hier wirklich dunkel. Edison hatte die Glühbirne noch gar nicht erfunden, erst Jahrzehnte später legte die Schleswag dort Stromleitungen.
Timm Thode treibt als Spukgestalt noch lange sein Unwesen Der Münsterdorfer Journalist Werner Brorsen ist für seinen akribisch recherchierten Tatsachenroman „Der Marschenmörder“ auf monatelange Spurensuche gegangen, hat Akten gesichtet, das Umfeld beleuchtet. Am Ende seines Buches schreibt er, dass die Menschen in der Wilstermarsch noch vor 50 Jahren an düsteren Winterabenden einen spukenden Timm Thode sahen, der bei Blitz und Donner am Tatort erschien.
Eine Spukgestalt hatten die Helfer im August vergangenen Jahres sicher nicht vor Augen. Bei vielen von ihnen wurden aber Erinnerungen geweckt. Fast auf den Tag genau nach 150 Jahren gab es im August des Jahres 2016 auf einem Bauernhof im Beidenflether Ortsteil Groß Kampen ein Großfeuer. Vermutlich wegen eines technischen Defekts brannte hier der Wirtschaftsteil bis auf die Grundmauern nieder. Der Schaden wurde auf rund eine halbe Million Euro geschätzt. Genau hier stand im 19. Jahrhundert jener Bauernhof, den Timm Thode in Schutt und Asche gelegt hatte. Die Hofstelle hatte anschließend den Besitzer gewechselt. Laut Höfebuch der Wilstermarsch hatte eine „Erbengemeinschaft Thode“ das Grundstück an die Vorfahren der heutigen Besitzer verkauft.
„Wissen Sie eigentlich, dass es auch die Kerkertür noch gibt, hinter der der Marschenmörder damals saß ?“ verblüfft ein Polizeibeamter aus Wilster seinen Gesprächspartner und klärt auch gleich auf. „Die Tür ist in der Itzehoer Feuerwache verbaut worden.“ Dass es tatsächlich noch ein authentisches Relikt aus jenen dunklen Tagen gibt, ist Werner Oehlers zu verdanken. Der langjährige stellvertretende Wehrführer von Itzehoe und leidenschaftliche Stadtführer hatte sich 1982 bei einem Rathaus-Umbau für den Erhalt der Zellentür eingesetzt. Seitdem gibt es die massive Holztür mit ihren schweren eisernen Beschlägen in der Itzehoer Feuerwache. Gleich daneben erinnert eine kleine gerahmte Urkunde an Werner Oehlers – und an den letzten Insassen im Kerker, den Familienmörder Timm Thode.
Bis der damals 24-Jährige hinter Schloss und Riegel kam, waren allerdings einige Monate vergangen. Thode hatte sich nach dem Verbrechen zu einem Nachbarn gerettet – als vermeintlich einziger Überlebender. Es sei, so berichtete er, auf ihn geschossen worden. Viel mehr konnte er als Zeuge wohl allerdings nicht aufbieten. Wie die Itzehoer Nachrichten später in unnachahmlichen Formulierungen berichten, habe das damals zuständige holsteinische Obergericht in Glückstadt „sich bei den bisherigen Ermittlungen nicht beruhigen können“. Mit anderen Worten: Die Justiz ließ nicht locker, und die Ermittler nahmen sich noch einmal den Bauernsohn vor, der dann in Untersuchungshaft weich gekocht wurde. Immer wieder öffnete sich die Itzehoer Kerkertür, musste der Delinquent zum Verhör antreten. Am Ende gab es ein Geständnis – und das Motiv. Thimm Thode hatte seine gesamte Familie aus reiner Habgier umgebracht. Er wollte den Hof für sich alleine haben.
Königlicher Schwurgerichtshof fällt das Todesurteil Damals wie heute hielten sich die Behörden mit detaillierten Auskünften noch während der laufenden Ermittlungen eher zurück. „Der Inculpat hat wohl sehr genaue Angaben über die Ausführung der Tat gemacht, die sich aber noch nicht mitteilen lassen, weil sie noch offenbar mit Lügen durchwebt sind“ – so wiederum die Itzehoer Nachrichten. Übrigens: Für die Menschen in der Wilstermarsch dürfte das – abgesehen natürlich vom Hörensagen – seinerzeit eine der ganz wenigen Informationsquellen gewesen sein. Die Wilstersche Zeitung kam erst 23 Jahre später auf den Markt.
Zurück zu Timm Thode. Natürlich wurde ihm der Prozess gemacht. Beginn war am 31. Januar 1868. Zwölf Geschworene waren bestellt, 17 Zeugen geladen. Wegen des großen öffentlichen Interesses zog das königliche Kreisgericht in den Ständesaal des Rathauses um. Der Königliche Schwurgerichtshof zu Itzehoe verurteilte Thode zum Tode. Auch dies hat Werner Brorsen ausführlich beschrieben.
Mörder wird in Glückstadt hingerichtet Am Ende gab es dann wohl nur noch die Schwierigkeit, einen geeigneten Platz für die Hinrichtung zu finden. Die Itzehoer Ratsversammlung lehnte bei der Suche nach einem geeigneten Schauplatz dankend ab. Auch in Rendsburg wollte man nicht mit der Hinrichtung eines Massenmörders in die Geschichte eingehen. Schließlich wurde der Innenhof des Zuchthauses am Glückstädter Rethövel ausgekundschaftet. Spannend ist auch die Suche nach einem geeigneten Scharfrichter gewesen. Todesstrafen waren in preußischer Zeit schon aus der Mode gekommen, die Guillotine auch. In der Altmark fand man laut Werner Brorsen schließlich den richtigen Mann, der für sich 180 Taler Honorar und je 50 Taler für seine drei Helfer forderte. Dazu Reisekosten und Unterbringung in einem angemessenen Hotel. Zuletzt kam dann noch von König Wilhelm grünes Licht. Man möge der Gerechtigkeit freien Lauf lassen, beschied seine Majestät per Kurier.
Was vom Marschenmörder bleibt, sind ein paar dürre Zeitungsberichte, ein spannender Kriminalroman, ein Tatort, wo es nun zum zweiten Mal brannte – und die unverwüstliche Kerkertür. Und natürlich die überlieferten Erinnerungen, die sich noch immer tief in das Gedächtnis der Menschen eingegraben haben.
Volker Mehmel
Mein-Wilster (Peter von Holdt) Link auf Timm Thode
1. Die Tunnelschleuse von Kasenort als Vorläufer der Schleusenanlage von 1925
"In der Rathausstraße schwammen die Enten" Aus Stadt und Land
Wilster, 6. September 1920. Gestern morgen zwischen 4 und 5 Uhr ertönte Feueralarm. Es handelte sich aber nicht um Feuers-, sondern um Wassersnot. In Kasenort geriet nachts beim Durchlaufen der Segler Pirat in der Schleuse fest, so dass die Fluttore nicht geschlossen werden konnten. Das Störwasser, das bei dem stürmischen West einen hohen Stand erreichte, strömte ungehindert ein und überschwemmte nicht allein die Niederungen, sondern trat auch über die Audeiche, so dass eine schwere Gefahr entstand. In Bischof und Kathen stehen Außendeiche und Wege unter Wasser. Die städtischen Gemüseländereien auf dem Brook und das Vogelstangenland, sämtliche Wiesen am Audeich auf der Stadtseite und bei der Rumflether Mühle gleichen Seen. Das Vieh konnte gerettet werden. Am Audeich wurden Verstärkungsarbeiten vorgenommen, um ein Abfließen des Wassers in die Marsch zu verhüten. Vom Burggraben aus floss das Wasser in die Bahnhofstraße, umflutete das Postamt und bedeckte auch bald den Platz beim Colosseum und größtenteils die Weiden von Schütt und Thumann. Bei dem Postamt sind Notbrücken errichtet. In das Dianabad gelangten die Bewohner mittels einer Leiter.
Kellerwohnungen, Keller und Pferdeställe mussten geräumt werden. Schweine schwammen in ihren Ställen im Wasser. In der Bahnhofstraße, Rathhausstraße schwammen die Enten, wo Gemüse stehen soll. Schwer ist der Schaden auf den Gemüseländereien. Das Heu in den Außendeichen wurde nach Kasenort getrieben. Zum Glück gelang es nach großer Anstrengung, das Schiff in der Schleuse unter Wasser zu drücken, so dass es vom Strom auwärts getrieben wurde und die Tore geschlossen werden konnten. Das Fahrzeug, das schwer gelitten hat, sitzt mit dem Heck noch in der Schleuse. Eine zweite Tide hätte geradezu verhängnisvoll wirken müssen. Der Druck des Wassers dürfte sich auch noch im Moor bemerkbar machen, da ein Abfließen nur allmählich erfolgen kann. Ein Gutes hat die Überschwemmung gehabt insofern, als Mäuse, Maulwürfe und Hamster aus Gärten verschwunden sind. Die Nager veranstalteten förmliche Kämpfe um Rettungsplätze. Man kann wohl annehmen, dass durch dieses Unglück die Frage des Schleusenbaus, von dem kaum mehr gesprochen wurde, wieder in Fluss kommt Wer trägt den Schaden?" (hier zitiert nach dem"Rathaus-Blatt", Wilster 1995).
Dieser Bericht aus der Wilsterschen Zeitung" stammt natürlich nicht von heute, sondern er ist genau 80 Jahre alt. Er erschien am 7. September 1920. Und die Frage einer neuen Deichschleuse in Kasenort ist seit 1925 entschieden. Denn bei der oben erwähnten Schleuse handelte es sich noch um die alte Tunnelschleuse, die sich 50 Meter westlich der heutigen Anlage befand. Diese neue Binnenschleuse Kasenort wurde 1925 errichtet, um mit ihrer Hilfe erstens die Schiffbarkeit der Wilster Au zu verbessern und zweitens den Wasserstand der Wilster-Au regulieren zu können. Wir werden weiter unten darauf näher eingehen.
Schiffbarkeit und Schifffahrt auf der Wilster Au vor 1925
Wie viele andere Hafenstädte der Region hatte Wilster in der frühen Neuzeit erst unter dem Itzehoer Stapel und später ab 1482 unter der Hamburger Stapelpolizei zu leiden, als diese den Versuch der Holländer, verstärkt Getreide in der Niederelberegion anzukaufen, mit Hilfe von Ausliegerschiffen und seinen Tonnenbojern durch harte Maßnahmen unterbanden. Und doch gelang es der Stadt im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts, eine bedeutende Handelsschifffahrt zu entwickeln. Ende des 16. Jahrhunderts waren hier 26 Schiffe beheimatet, von denen die größeren nach Spanien, Portugal, England, Schottland und Norwegen fuhren, während die kleineren dem Transithandel nach Dithmarschen dienten. Wilster exportierte Roggen, Käse und Tuche, während es auf der anderen Seite Bauholz in grossen Mengen importieren musste. Aber wo und unter welchen Bedingungen spielte sich diese nicht unbedeutende Schifffahrt eigentlich ab, wird sich ein Tourist fragen, der heute die Wilster Au in Kasenort oder sogar in Wilster erblickt.
Von der Elbe aus erreichten die Schiffe Wilster, indem sie die Stör aufwärts bis Kasenort segelten, dort in die Wilster Au einbogen und nach ca. 2,5 km in die Stadt einfuhren. Wer seine Ware bis nach Dithmarschen bringen wollte, der setzte seine Fahrt auf der Wilster Au flussaufwärts in Richtung Burg fort. Bis zur Allerheiligen-Flut des Jahres 1436 war dies noch möglich, ohne bei Kasenort eine Schleuse zu passieren. Dem "Spadenlandbrief" (1438) Adolfs VIII. von Schauenburg ist zu entnehmen, dass die schrecklichen Wasserschäden in der Wilstermarsch wohl auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass die Wilster Au-Deiche niedriger als die der Stör waren. Deswegen musste vor allem sofort die Einmündung der Wilster-Au in die Stör durch eine Schleuse gesichert werden. Also errichtete man 1438 in Kasenort eine Deichschleuse, und zwar auf der Nordseite der Einmündung der Wilster-Au in die Stör, dort, wo sich heute etwa die sog. Feldschleuse befindet. (Noch 1835 soll die alte Deichschleuse nur 3,60 m breit gewesen sein, bevor sie noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine nutzbare Breite von 4,20 m vergrößert wurde.)
Doch noch einmal zurück zu Adolf VIII. und seinem "Spadenbrief" von 1438: Nach dessen Zielvorstellungen ist nicht nur die erste Schleuse von Kasenort errichtet worden, sondern nach den darin enthaltenen Grundsätzen sind laut Detlefsen auch sehr wichtige Wasserbaumaßnahmen zur Begradigung der Wilster Au und Beschleunigung der Fließgeschwindigkeit sowie zur Entwässerung der Marsch über neu angelegte Wettern, die ebenfalls über die Au abgeleitet wurden, vorgenommen worden. Ferner ist den Quellen zu entnehmen, dass Adolf im Interesse Wilsters die Verbesserung des Fahrwassers mitbedachte, indem er die Bewohner auf beiden Ufern zu steter Reinigung und Austiefung der Wilster Au verpflichtete, damit sie ihren geräumigen Gang habe.
Die Wilster Au teilte im übrigen die Stadt für Jahrhunderte in eine "neue" und eine "alte Seite" und gab außerdem Wasser in die beiden Teilstrecken des Stadtgrabens ab, die zusammen die ganze Stadt umflossen. Der Hafen lag am Südufer der Wilster Au zwischen Sielwettern und dem neuen Burggraben auf einer künstlichen Insel, die lediglich über drei Stege betreten werden konnte und den romantischen Namen "Rosengarten" trug. (Die Wilster Au-Ewer hatten bis 1870 eine Länge von 11 bis 15 m und eine Breite von 3,00 bis 3,60 m. Die später gebauten Ewer waren bis 15,20 m lang und 4,17 m breit. Der Mast der Au-Ewer hatte eine Höhe von 4 bis 5 m über Deck. Der Tiefgang lag zwischen 1, 10 m und 1,27 m. Diese Maße erklären, warum die Innenstadt von Wilster bis ins 20. Jahrhundert von Handelsschiffen angelaufen werden konnte, wenn sie gewisse Maße nicht überschritten.)
Ab 1810 wurden nach Wilster von Hamburg aus für jeden Dienstag, Mittwoch, Freitag und Sonnabend "Schiffsgelegenheiten" (Hamb. Adressbuch v. 1810) angeboten.
Und auch nach Einsetzen der Industrialisierung hingen die meisten Arbeitsplätze weiterhin von der Schifffahrt sowie von Herstellung und Vertrieb landwirtschaftlicher Erzeugnisse ab, zumal für Schwertransporte von und nach Wilster nach wie vor nur der Wasserweg in Frage kam, auch als im November 1852 eine Chausseeverbindung von Wilster nach Itzehoe eröffnet wurde. Bis zu einer Verstärkung des Unterbaus (01.01.1853) durfte sie sowieso nur von leichteren Fahrzeugen benutzt werden. Die Trasse Itzehoe-Wilster wurde 1854 über St. Margarethen bis Brunsbüttel verlängert. Ab 1877 verfügte Wilster über einen Bahnanschluss.
So konnten zwei Ewerwerften, die von Falck (1856-84) und Bergmann (1840-1907), zeitweilig recht gut von den Neubau-Aufträgen der hiesigen Schifffahrt existieren, und sie bauten jeweils mehr als 25 Frachtfahrzeuge. Immerhin führten 43 Fracht-Ewer, unter diesen 35 reine Binnenschiffe, den Ortsnamen"Wilster" als den ihres Heimathafens am Heck.
Durch den Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals (1887-1895) wurde der Wilster Au der gesamte Oberlauf abgeschnitten. Eine Schleuse bei Bebek regulierte zwar den Wasserstand, doch stellten sich dadurch neue Missstände ein, da eine Spülung der Au durch das Oberwasser zum Teil aufgehoben wurde. Die Schiffer beschwerten sich seit dem Kanalbau über den ungenügenden Wasserstand der Wilster Au, die Landwirte an der oberen Wilster Au über zu hohen Wasserstand und die Einwohner von Wilster klagten über die ungenügende Entsorgung der gesundheitsschädlichen Abflüsse der Gerbereien und Lederfabriken. Die Stadt versorgt sich deshalb seit 1914 durch Anlage einer Wasserleitung mit besserem Grundwasser von Kleve. Neue Entwässerungsanlagen sorgten aber noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Abhilfe bei den betroffenen Landwirten. Dagegen kam die Schifffahrt oberhalb Wilsters wegen der Verschlickung der Au fast ganz zum Erliegen und auch auf dem Unterlauf nahm die Schifffahrt dramatisch ab: Im Jahre 1910 zählte die Stadt nur noch 12 Seeschiffe und etwa 20 Fluss- und Binnenschiffe. Freilich ist der Niedergang der Schifffahrt auch auf den Untergang der Lederfabriken und andere Umstände (verkehrsgeographische Situation Wilsters im Deutschen Reich; Kapazitätsgrenze des Hafens am "Rosengarten"; neue Verkehrsträger wie Schienen und Chausseen, neue Verkehrsmittel zurückzuführen (vgl. meinen Beitrag über "Schifffahrt, Hafen und Handel in Wilster" im Steinburger Jahrbuch 1983"). Kein Wunder, dass sich die Wilsteraner Bürger, die Landwirte entlang der Wilster Au und die Handelsschiffer seit der Fertigstellung des Kaiser-Wilhelm-Kanals eine Besserung der bestehenden Umstände durch den in Aussicht genommenen Neubau der Wilster Au-Schleuse bei Kasenort erwarteten und zudem die Tatsache hoch bewerteten, dass die Au nach dem Wassergesetz vom 7. April 1913 zu einem Wasserlauf 1. Ordnung erklärt wurde, dessen Unterhaltung von da ab dem Staate oblag. Doch dann kam 1914 der Erste Weltkrieg. Aber spätestens nach dem oben bereits erwähnten Unglücksfall mit der Segelschute "Pirat" am 5. September 1920 wurde die Forderung nach einem Schleusenneubau in Kasenort erneut gestellt.
2. Die (nach oben offene) Deichschleuse von Kasenort aus dem Jahre 1925
Im Jahre 1925 war es endlich soweit. Man errichtete in Kasenort eine neue Binnenschleuse zwischen der Wilster Au und der Stör. Die Länge der Schleusenkammer wurde mit 129 m ausgelegt, die Hubhöhe betrug 1,70 m. Damit konnten Schiffe bis zu gut einem Meter Tiefgang und bis zu 20 Meter Länge und bis zu 300 Tonnen die Schleuse passieren. Aber für die Handelsschifffahrt kam der Schleusenneubau von Kasenort zu spät. Für die Lastenschifffahrt spielte die Wilster Au nach dem Ersten Weltkrieg praktisch keine Rolle mehr. Der Hafen "Arn Rosengarten" wurde bereits in der Weimarer Republik geschlossen. Zwei Begradigungen der Au am Goldbogen und zwischen Schott- und Mühlenbrücke und zwei Ausbaggerungen im unteren Bereich der Au um 1930 (das Baggergut kam zum Brook, jetziges Kleingartengelände) retteten die Schifffahrt ebenso wenig wie der Schleusenneubau von Kasenort. In der Mitte des 20. Jahrhunderts waren nur noch sieben Schiffe in Wilster beheimatet, die den städtischen Teil der Au in der Nähe der neuen Schweinsbrücke als Liegeplatz benutzten. Und im Jahre 1975 fuhr das letzte Schiff mit Waren zur Rumflether Mühle. Der Schiffsverkehr zu den Mühlen, dem Futtermittelwerk, der Holzhandlung und zuletzt zum Winterliegeplatz der heimischen Schiffer ging zu Ende. Das letzte Schiff verließ 1990 Wilster zur Verschrottung. Geblieben war nur die Sportschifffahrt. Die Segler-Vereinigung von 1928 war Mitte der neunziger Jahre mit über 60 Segel- und Motorbooten in der Wilster Au beheimatet, die in Bootshallen am Brook untergebracht sind. Sie fühlen sich seit gut 25 Jahren (1975) quasi als die „Erben" der Handelsschiffer, die beobachten, wie sich die Au entwickelt, was sich hier verändert.
Das Funktionsprinzip der Kasenorter Schleuse von 1925 war ganz einfach und gilt auch noch für die renovierte Schleuse von 1999/2000: Wer durch die Schleuse von der Stör aus in die Wilster Au einfahren will, muss zunächst das Einsetzen des Ebbestroms und dann noch den Gleichstand der Wasserstände in Wilster Au und der Stör abwarten. Sobald nun der Störwasserstand unter den der Au fällt, öffnet sich das Stemmtor der Schleuse selbsttätig nach außen. Dies geschieht in der Regel bei Erreichen des Mittleren Tiden-Niedrigwasserstandes. Wenn allerdings Sturmwinde aus westlichen Richtungen so viel Wasser von der Elbe her die Stör hinaufdrücken, dass ihr Wasserstand nicht einmal bis zu jenem der Wilster Au abfällt, bleiben die Tore durchgehend geschlossen. Regnet es dann auch noch stark, so steigt der Wasserstand in der Au deutlich an. Die Au tritt dann zuweilen im Unterlauf gefährlich über die Ufer und sorgt hier für Überschwemmungen vor der Stadt. Nur die Anlage von Audeichen in der Stadt verhinderten hier ursprünglich Schlimmeres (die Straßennamen sprechen für sich: "Bischofer-Deich-Weg", "Am Audeich", "Deichstraße"). Diese Gefahr wurde freilich gebannt, seitdem ein Schöpfwerk am Oberlauf der Wilster-Au die Entwässerung in den Nord-Ostsee-Kanal (früher Kaiser-Wilhelm-Kanal) reguliert.
Auf der anderen Seite konnte und kann es auch geschehen, dass bei östlichen Starkwinden, bei denen die Elbe so leer geblasen wird, dass das Hochwasser erst sehr spät einsetzt, die Tore nur für kurze Zeit geschlossen bleiben. Schon aus Sicherheitsgründen sind andere Öffnungsprinzipien gar nicht denkbar, da der normale Hochwasserstand der Elbe höher als das Oberflächenniveau weiter Gebiete der Wilstermarsch liegt (90 % liegen unter dem Meeresspiegel!) und deren regelmäßige Überflutung allein durch entsprechende Eindeichung verhindert wird (Wilstermarsch und Krempermarsch müssen durch den rund 35 km langen Landesschutzdeich vor dem täglichen Gezeiteneinfluss der Nordsee, besonders aber vor Sturmfluten, die bis zu 5,5 m über NN auflaufen, geschützt werden). Andererseits wird in der Wilster Au das Wasser aus den Gräben der gesamten Marsch gesammelt: Insgesamt entwässern 3500 Hektar Land in die Wilster Au.
Paradoxerweise machte man sich fast zeitgleich mit dem Neubau der Schleuse Kasenort (1925) daran, die beiden durch die Stadt verlaufenden Au-Arme zu verrohren (1926), die Spültore an der Schottbrücke außer Betrieb zu setzen und den Hafen „Am Rosengarten" zu schließen, obwohl man sich doch von der neuen Schleuse in Kasenort noch einmal Impulse für die Schifffahrt, die Entwässerung der Wilstermarsch und die Verbesserung der Fließgeschwindigkeit der Wilster Au erhofft hatte.
3. Von der Gründung des Fördervereins "Wilsterau und Schleuse" (1995) bis zur Einweihung der sanierten Binnenschleuse Kasenort im Mai 2000
"Besucher können zukünftig direkt vom Hamburger Hafen per Schiff bis in Wilsters Innenstadt gelangen", so pries der Wilsteraner Bürgermeister, Peter Labendowicz, am Sonnabend, 6. Mai 2000, eine der Möglichkeiten, die seit der Renovierung der Kasenorter Schleuse wieder geboten ist. Ob nun gerade diese Chance von Reisenden wahrgenommen wird, ist genauso ungewiss wie zu Zeiten Napoleons, als man auch schon in Hamburg "Schiffsgelegenheiten" nach Wilster anbot (vgl. Hamburger Adressbuch von 1810). Realistischer ist da schon die Einschätzung von Schleswig-Holsteins Tourismus-Ministerin Ingrid Franzen gewesen, die in der sanierten Kasenorter Schleuse ein wichtiges Projekt für den sanften Tourismus sieht und sich den Schleusenbereich als zukünftigen Ausgangspunkt für Besucher vorstellen kann, die die Besonderheiten der Wilstermarsch erleben möchten. Im Übrigen lobte die Ministerin die vorbildliche interkommunale Abstimmung zwischen dem Amt Wilstermarsch und der Stadt Wilster, die am selben Strang gezogen hätten, um die Sanierung der Kasenorter Schleuse aus Mitteln der Dorferneuerung für über eine MillionMark zu verwirklichen. Die Ministerin zeigte sich angesichts dieses Erfolges davon überzeugt, dass sich die Wilstermarsch auch zukünftig wirtschaftlich, ökologisch, kulturell und sozial positiv weiter entwickeln werde, auch wenn es strukturelle Veränderungen zu meistern gelte.
In der Schleusenkammer hatten zur der Feier der Sanierung am 6. Mai 2000 mehrere Segel- und Motorjachten sowie zahlreiche Kanus und Opti-Segler fest gemacht, und zwischen Wilster und Kasenort pendelten an diesem Tag das Ausflugsboot "Aukieker" der Familie Brandt aus Wilster sowie Pferdekutschen von Kurt Schmidt aus Stördorf, um die Gäste zum Veranstaltungsort zu bringen. Sie erwartete nicht nur ein umfangreiches Unterhaltungsprogramm, sondern auch offizielle Reden zur Einweihung der sanierten Schleuse. So sprach neben der schon erwähnten Ministerin Franzen auch Willi Gilde, der Vorsitzende des Fördervereins Wilsterau und Schleuse". Willi Gilde erinnerte daran, dass der Förderverein 1995 gegründet worden sei, um etwas an der Au und mit der Schleuse auf die Beine zu stellen. Er sei glücklich, dass dies gemeinsam mit der Struktur- und Entwicklungsanalyse gelungen sei.
"Die Entwicklung, die wir hier losgetreten haben und die landesweit beispielhaft ist, macht uns auch ein wenig stolz", bestätigte Amtvorsteher Eggert Block. Immerhin habe man mit der Dorfentwicklung ein Investitionsvolumen von bislang 6,7 Millionen Mark los getreten.
Was nun die Kasenorter Schleuse anbetrifft, so ist sie nach meinen Kenntnissen mit 1,05 Millionen Mark saniert worden. Zuschüsse kamen dabei in Höhe von 214.600 Mark vom Land, in Höhe von 345.200 Mark aus Brüssel und in Höhe von 172.700 Mark vom Förderfonds Nord, so dass die Stadt Wilster und das Amt Wilstermarsch noch 317.600 Mark an Eigenmitteln aufbringen mussten.
In der Summe war das am 06.05.2000 ein Grund zum Feiern: Und so wurde auf dem neuen Parkplatz des Schleusengeländes ein buntes Programm dargeboten: Der Gewerbe- und Verkehrsverein Wilster und Wilstermarsch ließ das Glücksrad drehen, das Wilsteraner Reisebüro und die Personenschifffahrt Brandt (PSB) informierten über ihr Ausflugsprogramm, und beim Schleusenkrug wurde für das leibliche Wohl gesorgt. Zur Unterhaltung spielten die Feuerwehrkapelle Sachsenbande-Neuendorf, der WRS-Spielmanns- und Fanfarenzug Wilster und das Fanfaren-Corps Nortorf. Hinzu kamen Tanzgruppen und Chöre aus Wilster ("Liedertafel") und Wewelsfleth.
P.S.: Mein besonderer Dank gilt Herrn Willi Gilde aus Wilster, dem Vorsitzenden des 1995 gegründeten Fördervereins "Wilsterau und Schleuse", für die großzügige Versorgung mit mündlichen und schriftlichen Informationen für die Erstellung meines Beitrags.